Bericht aus den Eschweiler Nachrichten vom 19.04.14. Vielen Dank an die EN für die Bereitstellung des Artikels)

Von Valerie Barsig

Junge minderjährige Flüchtlinge haben in der Indestadt einen Platz im Haus St. Josef gefunden. Sie haben eine Reise mit vielen Strapazen hinter sich.

Eschweiler. Ali (Name von der Redaktion geändert) sitzt auf dem Fahrrad und übt die Rechts-vorlinks-Regel. Er ist 17 Jahre alt und kommt aus Guinea in Afrika. Fahrrad gefahren ist er dort oft, inDeutschland gibt es allerdings viel mehr Regeln, die man beachten muss. Die Kreuzung Peter-Paul-Straße und Parkstraße ist heute ein Übungsplatz. Jürgen Wallraff, Freizeitleiter am Haus St. Josef hat eine Gruppe von drei Jugendlichen dabei, die heute mit ihm Radregeln in Echtzeit lernen.„Gucken wir erstmal den Autos zu!", fordert Wallraff die Gruppe Jungen auf. Deutsche Verkehrsregeln kennen sie nicht, denn keiner von ihnen ist schon lange im Land. Sie alle sind laut Fachjargon „minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge" – eine sperrige Bezeichnung für das, was sie hinter sich haben: Flucht aus der Heimat, wochenlange Strapazen, bis sie – irgendwie – in Eschweiler im Haus St. Josef landeten. Sechs Jugendliche aus Afrika, Afghanistan und dem Irak leben im Heim. Sie alle haben Geschichten zu erzählen, die kaum ein anderer Jugendlicher in ihrem Alter erzählen kann.

Monatelange Reise

Ali ist seit sechs Monaten in Eschweiler. Bis er endlich in Deutschland ankam, vergingen Monate. In gebrochenem Deutsch erzählt er seine Geschichte. „Ich möchte sie erzählen, weil ich mich hier in Deutschland sicher und aufgehoben fühle", sagt er. Ali wuchs ohne seine Mutter auf, sie starb, als er noch ein kleiner Junge war. Als Teenager verlor er seinen Vater, lebte bei seinem Onkel. Als sein Cousin starb, wurde das Zusammenleben mit Onkel und Tante unmöglich. Über die Details möchte er nicht sprechen, sie führten aber dazu, dass er in seinem Heimatdorf verfolgt wurde und nicht mehr bleiben konnte. Eine Freundin seiner Eltern schickte ihn in den Senegal, um in einem Restaurant zu arbeiten. „Eine Woche habe ich das ausgehalten", erzählt er. Die Arbeitszeiten gingen von früh morgens bis spät in die Nacht. Als er um mehr Ruhe bat, wurde er rausgeworfen. „Ich musste zwei Tage auf der Straße schlafen." Danach putzte er Schuhe für drei Euro am Tag. In ihm reifte der Entschluss, er müsse nach Europa. Er habe nicht gewusst, wo er sonst leben sollte, erzählt er heute. Über Umwege reiste er nach Mauretanien, dort musste er mit vielen anderen Flüchtlingen in Kartons auf der Straße übernachten. Um sich Geld für die Reise nach Europa zu verdienen, hütete er Ziegen für einen Araber. „Er sagte mir, ich müsse fünf Monate für ihn arbeiten, dann könne er mich nach Europa bringen."

In einer Nacht- und Nebelaktion musste er seine Sachen packen und wurde zusammen mit 77 anderen Flüchtlingen auf ein kleines Holzboot gepfercht. „Es hieß auf einmal nur, Ali, nimm deine Sachen, dann ging es los." Vier Tage lang dauerte die Überfahrt über das Meer. Wo genau er landete, weiß er bis heute nicht. „Ich hatte riesige Angst." Nicht alle von den 77 hätten die Überfahrt überlebt, erzählt er. Nachdem das Boot an der Küste angekommen sei, seien sie einfach in alle Richtungen losgerannt. Dunkel sei es gewesen, vielleicht Mitternacht, erinnert er sich. „Ein Mann hat mir einfach so ein Busticket gekauft." Sein Ticket ging bis nach Dortmund. Wie lange genau Ali mit dem Bus unterwegs war, daran kann er sich heute nicht mehr erinnern. Bei einem Zwischenstopp sprach ihn der Busfahrer an. „Er fragte, warum ich nichts zu essen und zu trinken dabei hatte." Dann habe er ihm eine Flasche Wasser und ein Brötchen gekauft. Irgendwann hielt der Bus und der Fahrer wollte Ali aus dem Bus schicken. „Ich sagte die ganze Zeit, nein, das geht nicht, ich muss nach Deutschland." Aus dem Bus musste er trotzdem. Der 17-Jährige wusste nicht, dass er bereits am Ziel angekommen war: Erst als er eine Frau auf der Straße ansprach, stellte er fest, dass er in Dortmund war. Nicole Pisters ist eine der Betreuerinnen der Wohngruppe, in der Ali inzwischen lebt. „Die Arbeit mit den Flüchtlingen macht viel Spaß", erzählt sie. „Sie sind interessiert, wollen unsere Kultur kennenlernen", erzählt Pisters. Ganz besonders wollten sie Deutsch lernen. „Sie müssen oft aus ihrer Heimat fliehen, weil ihr Leben dort bedroht wird", erzählt Pisters. Die Erfahrungen der Jugendlichen seien traumatisch. Deutschland sei für sie eine Chance, ein ganz neues Leben zu beginnen. Das Haus St. Josef begleitet sie dabei. Einige frühere Heimkinder, die durch Flucht nach Deutschland kamen, haben heute ihren Schulabschluss, machen erfolgreich eine Ausbildung. Auch Ali sagt: „Ich mag Schule." Während er seine Geschichte erzählt spricht er die meiste Zeit auf Deutsch. Nur manchmal wechselt er ins Französische. Als er in Dortmund ankam, habe er zufällig einen Mann getroffen, der Fula sprach, einen der Dialekte, den man in Guinea spricht. Über ihn und andere Helfer gelangte er zum Ausländeramt in Dortmund. Dort wurde er medizinisch untersucht, musste seine Geschichte erzählen und wurde dann in die Nähe von Aachen in ein Flüchtlingsheim gebracht. „Das war für mich wie im Gefängnis erzählt er." Drei Monate lebte Ali nur mit Erwachsenen zusammen. Ali wurde in Dortmund fälschlich als Volljährig eingestuft und gemeinsam mit Erwachsenen untergebracht. Auch zur Schule konnte er in dieser Zeit nicht. „Für mich war aber klar: Ich muss unbedingt zur Schule", erzählt er. Irgendjemand erzählte ihm dann vom Café Zuflucht in Aachen. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes und mit dem Café Zuflucht konnte er dann die Änderung seines Alters bei den Behörden erreichen und wurde nach Eschweiler geschickt. Eine lange Reise ging zu Ende. Inzwischen geht er in eine Förderklasse an einem Berufskolleg. „Ich bin gesund, ich gehe zur Schule und ich fühle mich hier sicher", sagt er. „Dafür hätte ich früher alles gegeben." Nach Afrika zurück will er nicht. „Natürlich ist das meine Heimat." Aber leben will er dort nicht mehr. Er hat bereits Wurzeln geschlagen in seiner neuen Heimat Deutschland: Er spielt zweimal die Woche Fußball, ist in einer Laufgruppe, nimmt an einem Trommelprojekt des Haus St. Josef teil. „Die Entwicklung, die er hier macht, sieht man täglich", sagt Betreuerin Nicole Pisters. Sie hilft Ali und den anderen Jugendlichen aber auch, den ganz normalen Alltag zu organisieren und auch bei Behördengängen. Ein Beispiel für andere „Es sind ganz einfache Dinge wie kochen, putzen, Zimmer aufräumen oder Termine machen", erzählt sie. Irgendwann soll Ali allein wohnen. „Es geht darum, für die Jungs eine Existenzgrundlage zu schaffen", sagt auch Freizeitleiter Jürgen Wallraff. An Ali und den anderen jugendlichen Flüchtlingen könnten sich andere nur ein Beispiel nehmen, sagt er. Bald will er mit ihnen ins Hallenbad. Ali kann zwar nicht schwimmen, freut sich aber schon riesig. „Ich will es unbedingt lernen", sagt er. Erst einmal ist aber noch das Radfahren dran: An der Kreuzung Peter-Paul-Straße und Parkstraße zeigt Ali, dass er die Rechts-vor-links-Regel inzwischen perfekt beherrscht – besser als mancher deutscher Autofahrer. Ein großer Wunsch von ihm ist vielleicht bald mit einem eigenen Fahrrad durch ganz Eschweiler zu fahren. „Sie müssen oft aus ihrer Heimat fliehen, weil ihr Leben dort bedroht wird."