Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten minderjährigen Flüchtlingen in der stationären Jugendhilfe

 

„….da steht die Welt für einen Augenblick still. Und wenn sie sich dann weiterdreht, ist nichts mehr wie es war.…“

Dieses Zitat spricht sicherlich den vielen Menschen aus der Seele, mit denen wir in der nun verstärkt in der pädagogischen und therapeutischen Arbeit zu tun haben – es gilt aber auch für all jene, die sich ohne ein wirkliches Konzept zur pädagogischen Arbeit mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (oder Asylsuchenden oder Ausländern) und ohne Erfahrungen völlig unvorbereitet konfrontiert sahen. Mit Menschen, die zum Teil furchtbare existentielle Bedrohungen und Verluste erfahren hatten und sich nun in einer fremden Kultur zunächst ohne ausreichende sprachliche Verständigungsmöglichkeiten wieder fanden.

Was sich bereits in den Wohngruppen des Hauses Sankt Josef, die mit „traumapädagogischen“ oder integrativen Konzepten arbeiten, bewährt hatte, das war das zentrale Thema der Stabilisierung. Traumapädagogische Methoden wurden beinahe „flächendeckend“ auch über alle nicht hoch belasteten Kinder und Jugendliche ausgebreitet und allesamt konnten enorm von diesen Verfahren profitieren. Zu den Standardmethoden zählten insbesondere der „Notfall- und Ressourcenkoffer“, welcher aufgrund der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und der Unabhängigkeit von der Anwesenheit eines Mitarbeiters im Krisenfall von den Betroffenen eingesetzt werden konnte. Diese „Koffer“ beinhalten für jedes Gruppenmitglied gesondert eine Reihe von Materialien und Reizen, die beruhigend, angenehm stimulierend, tröstend und dissoziationsstoppend wirken (Erinnerungsfotos, Badesalz, Schokolade, Riechfläschchen, CDs, Sorgenfresser, Chillibonbons, u.v.m.). Da die überwiegende Anzahl der traumapädagogischen Methoden ressourcenaktivierend und wahrnehmungsfördernd sind, können sie nicht nur unbedenklich sondern auf sinnvolle Weise für alle Kinder und Jugendliche verwendet werden. Auch die emotionsregulierenden Achtsamkeits- und Imaginationsübungen oder psychoedukative Handbücher (über „Trauma“, „Dissoziation“, „Vorgänge im „Gehirn“, „Psychische Erkrankungen“) sind für Nicht-Traumatisierte Gruppenmitglieder hilfreich und von großem Interesse.

Dies galt für die Gruppen, die nun mit den Flüchtlingen arbeiten wollten besonders. Die klassische Diagnosestellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erwies sich nicht alleine wegen der Sprachbarrieren und der interkulturellen Differenzen als nicht praktikabel. Die Überlagerung der Befindlichkeiten und Symptomatiken durch den „Kulturschock“ und die Angst vor Abschiebung bzw. einen unsicheren Aufenthaltsstatus schlossen herkömmliche Vorgehensweisen einer diagnostischen Phase und anschließender Zuweisung auf spezielle Angebote aus. Eine Vorgehensweise bestand darin, Pflegefamilien für jüngere Kinder mit entsprechender Fluchtgeschichte anzuwerben und kurzfristig zu schulen. Beinahe rührend war, dass einer der Dolmetscher, der für die Einrichtung wiederholt aktiv geworden war, auch ein Kind in seiner Familie in Pflege nahm. Ältere Jugendliche wurden bei der Verselbständigung unterstützt und in das „Betreute Wohnen“ überführt. Hier konnten sie in eigenen 4 Wänden mit entsprechender pädagogischer Unterstützung alleine oder in kleineren Wohngemeinschaften lernen, was noch zur eigenständigen Haushaltsführung und Lebensgestaltung (auch im Hinblick auf Behördengänge) notwendig war.

Stattdessen gingen wir davon aus, grundsätzlich mit hochbelasteten Menschen zu arbeiten, die der besonderen Zuwendung und einem Verständnis bedürfen, welches sich jenseits der bewährten Pädagogik bewegt.

Dementsprechend wurde die Schulung aller Mitarbeiter zur Vermittlung einer „traumasensiblen Haltung“ grundlegend, ebenso wie die Arbeit in Gremien zur Qualitätssicherung und Verbesserung gerade unter diesem Fokus unerlässlich.

Parallel zur alltäglichen Arbeit wurden intensive Schulungsblöcke angeboten, in denen die Mitarbeiter sowohl intensive Methodenkenntnisse erwerben konnten, aber auch nicht zuletzt durch entsprechende Selbsterfahrung eine Haltung entwickeln konnten, die vor Überforderung und Ohnmacht schützen konnte.

In der Alltagsgestaltung mit den sehr oder weniger belasteten jungen Menschen erwiesen sich Struktur und Rhythmus als wesentlich für die Beruhigung und Integration. Geregelte Tagesabläufe, übersichtliche Wohn- und Alltagsprozesse, wiederkehrende Personen und verstehbare Rollen (Erzieher, Lehrer, Freizeitpädagogen, Dolmetscher, Jugendamt) ließen die

unterschiedlichen Individuen zu einer Gruppe mit konstruktiven Kräften und einem Zugehörigkeitsgefühl werden. Es ging zunehmend um Kooperationsmöglichkeiten der Betroffenen und gegenseitige Unterstützung statt Konkurrenz oder Vereinzelung. Die traumasensible Haltung und Erziehung erwies sich hier wiederum als sinnvoll für alle Gruppenmitglieder. Die Haltung von Wertschätzung und Respekt gegenüber der Lebensleistung auch von jungen Menschen, das Verständnis eines jeden Verhaltens als sinnvoll vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte sowie die Förderung aller möglichen Ressourcen und Individualität stellt einen hervorragenden Nährboden für die Entwicklung aller jungen Menschen dar.

Der Erwerb der deutschen Sprache erwies sich zwar wichtig und zur langfristigen Integration

unerlässlich, aber gerade die Bemühungen der Helfer, auch Sprache und Kultur der jungen Flüchtlinge kennen zu lernen, zeigt einen außerordentlich wertschätzenden Effekt. Die Flüchtlinge fühlten sich angenommen und erlebten auch die Pädagogen als bemüht um Verständigung. Auch erfuhr die Muttersprache der Kinder und Jugendlichen einen Wert und eine Bedeutung; viele waren stolz, Teile ihrer Kultur und Sprache anderen Menschen beibringen zu können. Ein beliebtes Medium der Annährung war beispielsweise auch das Kochen. Gerade durch die sinnlichen Erinnerungen an die Heimat und diese geteilte Erfahrung von deren „Küche“ innerhalb unseres westeuropäischen Kulturkreises wurde Gemeinsamkeit gelebt. Es kann gar nicht ernst genug genommen werden, was es für die Flüchtlinge bedeutete, uns zu bereichern durch das, was sie können und wissen. Dennoch stellte sich der Kontakt zu Landsleuten – oft auch nur per Handy – als elementar dar und wurde nach Möglichkeiten gefördert, um ein Gefühl der Verwurzelung auch unter den gegebenen extremen Bedingungen zu erhalten.

Speziell unter dem Fokus von möglichen Traumatisierungen war die Psychoedukation (die Erklärung von seelischen Vorgängen, Störungen und deren Auswirkungen, Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten) zum Teil mit Hilfe von Dolmetschern von zentraler Bedeutung.

Das so erworbene Verständnis von intrusiven, also überflutenden oder dissoziativen/gefühlsabspaltenden Symptomen als „normalen Reaktionen“ auf „unnormale Erlebnisse“ führte zur Entlastung der Betroffenen und weckte ein Interesse an den diversen Methoden zur Regulation der eigenen Gefühle (z.B. Notfallkoffer, Wutbälle zum Kneten, Sandsäcke zum Boxen). Die quälenden Zustände von emotionaler Überflutung einerseits und

schmerzender Leere andererseits wurden so unter dem Aspekt der Selbstbemächtigung steuerbarer. Die Flüchtlinge erlebten angeleitete und erklärte Verhaltensalternativen als hilfreich und sich als autonomer durch diese Möglichkeiten. Auch non-verbale, „ruhigere“ Verfahren, und die Arbeit mit Symbolen wurden effektiv eingesetzt, insbesondere, wenn die sprachlichen Barrieren nicht viel Kommunikation zuließen; Farben, Gesichter, Steine, alles, was jenseits der speziellen Kultur verständlich ist („Smileys“, Bäume, Wetterkarten). Beliebt beispielsweise waren die Karten der „Familie Erdmann“. In diesem Set gibt es 16 Karten, auf denen ein Erdmännchen durch Mimik und Gestik seine Befindlichkeit zeigt (Trauer, Freude, Neugierde,….); diese Karten dienten häufig zur Verständigung über die eigene Befindlichkeit,

wo die Sprache noch versagte.

Als bedeutsamste Überschrift in der pädagogischen Arbeit des Hauses Sankt Josef erwies sich die „Ressourcenorientierung“. Bei allem Respekt vor den Schicksalen eines jeden einzelnen sollte der Blick auf die Stärken, die Gegenwart und eine positive Zukunftsgestaltung gelegt werden und nicht ausschließlich auf das massiv erfahrene Leid. Die Fluchtgeschichten wurden nicht zuletzt aufgrund von deren Bedeutsamkeit für den weiteren Aufenthaltsstatus in Deutschland mit Unterstützung von Dolmetschern erhoben, aber darüber hinaus galt unser Hauptaugenmerk den Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Erstaunlich war immer wieder, über wieviel Resilienz manche der Betroffenen

verfügten. Trotz unglaublicher Belastungen und auch Verluste gelang es diesen, sich dem Alltag und sogar den Anforderungen von Sprach- und Integrationsangeboten intensiv zuzuwenden. Sie konnten ihr „neues Leben“ hier in Deutschland als Chance verstehen und die neuen Beziehungen als Quelle von Unterstützung.

Natürlich gibt es auch Jugendliche, die in der erfahrenen Täter-Opfer-Spaltung und ihrer Dynamik verhaftet blieben. Solche, die die Pädagogen eher als Feinde ansahen und dementsprechend aggressiv fordernd auftraten. Diese Jugendlichen verweigerten häufig die Mitarbeit und fixierten sich auf materielle Güter, die ihnen vermeintlich zustehen würden (Handy, besondere Kleidung, Fahrdienste durch die Erzieher). Oft entluden sich deren angestaute Affekte gerade gegenüber Frauen, die oft auch vor dem Hintergrund einer entsprechenden Sozialisation als schwächer oder minderwertig betrachtet wurden. Hier war

auch auf der Ebene der MitarbeiterInnen viel Reflexionsarbeit und Begleitung notwendig.

Ängste, Kränkungen, Enttäuschungen und andere heftige Gegenübertragungsreaktionen galt

es aufzufangen und diese konstruktiv für den Verständniszusammenhang zu nutzen. An vielen Stellen konnte dies gut gelingen – manche Jugendlichen verloren wir allerdings auch; sie waren leider aufgrund ihrer Traumatisierungen nicht imstande, sich auf unser Angebot einzulassen, sondern flohen auch vor uns zum Teil zu anderen Flüchtlingen, die sie kennengelernt hatten oder in andere Städte mit der Idee, dort besser „versorgt“ zu werden. Hier spreche ich auch von Flüchtlingen, deren Motivation das „bessere Leben“ war, die ihr Land verließen, weil sie in Deutschland Reichtum für sich suchten.

Zusätzlich zu den Anforderungen einer ersten und mittelfristigen Versorgung dieser bedürftigen Personen galt es auch die Mitarbeiter der Einrichtung vor sekundären Traumatisierungen durch einige der Flüchtlinge zu schützen; dies nicht nur in Bezug auf deren zum Teil dramatische Fluchtgeschichte, sondern im Hinblick auf deren Ausagieren, speziell Flüchtlinge, die direkte interpersonelle Gewalt erfahren hatten. Sie projizierten das eigene Bedrohungserleben auf die Mitarbeiter aber auch Mitbewohner und wurden so zur unberechenbaren Variable im Zusammenleben.

Last but not least möchte ich noch kurz ein paar Worte zu der Frage nach „Psychotherapie“ verlieren - die psychotherapeutischen Versorgungsmöglichkeiten stellten sich wie erwartet trotz allem löblichen Engagement von Kolleginnen und Kollegen als äußerst defizitär dar. Dies ist allerdings auch und besonders auf die allgemeine therapeutische Unterversorgung gerade von Kindern und Jugendlichen zurück zu führen, die statistisch gesehen in Bezug auf die Niederlassungsregelung von Psychotherapeuten durch die Kassenärztliche Vereinigung vielleicht nicht existiert, dennoch aber deutlich vorhanden ist.

Meine eigene Erfahrung in der psychotherapeutischen Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen hat gezeigt, dass gerade die Methode des EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) effektiv durchführbar ist und dies mit Unterstützung eines

kompetenten Dolmetschers; die Kunst, als Dolmetscher ein Sprachrohr des Behandlers zu sein habe ich in diesem Zusammenhang erleben dürfen und ich war selber begeistert und fasziniert, welche Möglichkeiten sich auf diesem Wege der Zusammenarbeit ergaben! Beim EMDR werden Verarbeitungsprozesse im Gehirn, die im Falle einer Traumatisierung „eingefroren“ sind wieder aktiviert. Durch schnelle angeleitete Augenbewegungen kann das Gehirn die Wahrnehmungsfragmente, die während einer traumatischen Situation entstehen, zusammenfügen und verarbeiten. Als hilfreich hat sich überdies die therapeutische Arbeit mit imaginativen Verfahren und Achtsamkeitsübungen erwiesen, da hier zum Teil sprachliche Barrieren weniger relevant waren und die Patienten auch für sich üben und profitieren konnten ohne die direkte Anwesenheit der Behandlerin. Speziell die Tresorübung, in der sich der Patient all sein belastendes Erinnerungsmaterial als eingeschlossen in einem Tresor verschlossen vorstellt, führt schnell zur Entlastung. Die Übung des „Sicheren Ortes“ ist ebenso zentral. Hier stellt sich der Patient einen Ort der Geborgenheit vor, den er für sich so angenehm wie möglich gestalten kann. Hierher kann er

sich jederzeit in seiner Vorstellung zurückziehen, sich erholen und Kraft tanken. Manche Flüchtlinge hatten zunächst große Probleme, da sie in ihrer Biografie einen solchen Ort noch

nie erleben durften. Hier wurde kleinschrittig zusammen entwickelt, was Sicherheit und Schutz eigentlich bedeuten kann und wie der Betreffende sich seinen Rückzugsort vorstellen kann.

Was die Notwendigkeit einer Psychotherapie betrifft, so kann ich aus meiner Erfahrung berichten, dass sehr vieles an Beziehungsarbeit und Stabilisierung durch geschulte pädagogische MitarbeiterInnen geleistet werden konnte und musste. Wo diese sich an Grenzen sahen oder die Jugendlichen von sich aus Bedarf nach einem Ansprechpartner jenseits der Gruppe anmeldeten, dort wurde ich psychotherapeutisch tätig. Und das war erfreulicherweise eher selten!

In diesem Zusammenhang möchte ich den Mut und Kreativität der vielen MitarbeiterInnen des Hauses Sankt Josef betonen, die sich auf diese neuen Aufgaben mit viel Herzblut eingelassen haben: Oft auch junge Pädagogen/innen, die sich mit viel Neugierde und Idealismus den Problemlagen der Flüchtlinge stellten und innerhalb der traumaspezifischen Fortbildungen mit ihrer Wissbegier eine wirkliche Bereicherung darstellten.

(Verfasser: Claudia Effertz, Dipl. Psychologin/Psychol. Psychotherapeutin)